Resolution des 51. Hochschulverbandstages

Zu Chancen und Risiken "virtueller Universitäten" und zum Einsatz elektronischer Medien in universitärer Forschung und Lehre (51. Hochschulverbandstag 2001)

Vorbemerkungen
Der Einsatz elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologien in allen Lebensbereichen verändert auch die Universität. Dies betrifft die Forschung und die Lehre der Universitätsprofessoren in gleicher Weise wie die universitäre Organisation, Finanzierung und Steuerung. Eine besondere Rolle in diesem Veränderungsprozeß werden die Studienangebote „virtueller Universitäten" spielen.
 

„Virtuellen Universitäten" werden hohe Erwartungen entgegengebracht. Sie sollen die Qualität der akademischen Lehre steigern und Einsparungen ermöglichen. Gleichzeitig ist der Einsatz elektronischer Medien im Universitätsbereich noch mit vielen Unsicherheiten und Fragen behaftet. Um „virtuellen Universitäten" einen angemessenen Platz in der Hochschullandschaft zuzuweisen, müssen Chancen und Risiken, Vor- und Nachteile nüchtern abgewogen werden. Es ist vor allem Aufgabe der Universitätslehrer, die zukünftige Entwicklung des Einsatzes der neuen Medien in Forschung und Lehre zu gestalten.
Ziele und Aufgaben
 

Die Entwicklung von „virtuellen Hochschulen" und Nutzungskonzepten neuer Medien an Universitäten berührt grundsätzliche Fragen nach den Aufgaben und Zielen der Universität. Wichtigstes Kriterium für die zukünftige Entwicklung muß der Erhalt und die Verbesserung der wissenschaftlichen Qualität von Forschung und Lehre sein. Die wesentlichen Ziele der Bildung durch Wissenschaft - Fähigkeit zu selbständigem Urteil und Kritik sowie Bildung der Persönlichkeit - müssen auch Ziele der „virtuellen Universität" sein. Multimedia muß stets als Mittel, nicht als Objekt universitärer Bildung verstanden werden. Multimediale Lehrformen dürfen daher keine „Anstatt-Funktion" erhalten. Sie haben einen der Wissenschaft dienenden Charakter.
Wettbewerb und Qualität
 

Multimediale Lehrangebote stellen ein Wettbewerbselement im Bildungssystem dar. Universitäten untereinander, aber auch Universitäten und kommerzielle Anbieter werden durch multimediale Lehrangebote in einen schärferen und globalen Wettbewerb treten. Dieser Wettbewerb muß der Qualitätssicherung und -steigerung wissenschaftlicher Arbeit und Ausbildung dienen.
 

Die Entwicklung multimedialer Lehrangebote darf weder zu einer „Vermassung" des Universitätsstudiums im Sinne qualitativer Minderung noch zu verschiedenwertigen Klassen universitärer Ausbildung führen. Auf die Einhaltung von Qualitätsstandards ist nicht nur bei der Ausgestaltung von Prüfungsordnungen und Anerkennungsverfahren zu achten. Zum Erhalt wissenschaftlicher Qualität bedarf es auch der persönlichen Abnahme von Abschlußprüfungen durch Professoren. Die Zugangsvoraussetzungen zur „virtuellen Universität" müssen durch den Gesetzgeber klar geregelt werden.
 

Die Notwendigkeit der Finanzierung multimedialer Angebote darf nicht dazu führen, daß „virtuelle Universitäten" sich auf die Vermittlung vom Arbeitsmarkt gefragter Kenntnisse und Fähigkeiten beschränken. Auch die „virtuelle Universität" vermittelt nicht die Berufsfertigkeit, sondern die Berufsfähigkeit. Eine „virtuelle Universität", die den Namen Universität verdient, darf ihr Angebot nicht auf wenige marktgängige Fächer reduzieren. Auch an einer „virtuellen Universität" muß der Zugang zu benachbarten wissenschaftlichen Disziplinen sowie Interdisziplinarität für Lehrende und Lernende möglich sein.
„Virtuelle Universität" und Universitätsprofessoren
 

Traditionelle und „virtuelle" Universität stehen sich nicht unvereinbar gegenüber. Sie können und sollen sich gegenseitig ergänzen. Die Arbeit der Universitätsprofessoren wird durch multimediale Lehrangebote nicht obsolet. Multimediale Lehrangebote werden allerdings Auswirkungen auf den einzelnen Hochschullehrer haben (rechtliche Stellung, Höhe des Lehrdeputats, Ausstattung, u.ä.). Insbesondere in Fragen der Erschließungs- und Verwertungsrechte elektronischer Publikationen wird sich für „virtuelle Universitäten" ein Spannungsfeld zwischen Urheber, Interessen Dritter und dem Recht der Allgemeinheit auf freien Zugang zu wichtigen wissenschaftlichen Arbeiten ergeben. Die vielfältigen Unsicherheiten, die aus den zu erwartenden Entwicklungen resultieren können, sind möglichst früh zu erkennen und gesetzlichen Regelungen zuzuführen. Die Rechte der Urheber sind zu schützen.
Art und Umfang des Einsatzes von multimedialer Lehre liegt ausschließlich in der Entscheidung des einzelnen Hochschullehrers. Dies gebietet die grundgesetzlich verbürgte Freiheit der Lehre.
 

Multimedial unterstützte und traditionelle akademische Lehre
Die in der „virtuellen Universität" integrierten verschiedenen Informations- und Kommunikationstechnologien eröffnen neue Formen der akademischen Lehre. Diese können den einzelnen Universitätslehrer von Routineaufgaben entlasten. Die Unterstützung akademischer Lehre durch Multimedia ist insbesondere geeignet, die Vermittlung von Faktenwissen von Lehrendem zu Lernendem zu beschleunigen. Sie stellt jedoch auch neue didaktische Anforderungen an die Hochschullehrer. Das bloße Bereitstellen elektronisch abrufbarer Informationen ist noch keine akademische Lehre. Multimedial unterstützte akademische Lehre bedarf der besonderen didaktischen Gestaltung. Dies bedeutet auch, daß Universitätsprofessoren zukünftig nicht auf die Rolle eines Moderators oder eines beratenden Tutors beschränkt werden können. Auch in der „virtuellen Universität" bleibt das von einem fachlich versierten Universitätslehrer geleitete Lernen maßgeblich, das sich nach den individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Studierenden richtet.
 

Multimedial unterstützte akademische Lehre kann die menschliche Begegnung zwischen Lehrendem und Studierendem sowie der Studierenden untereinander nicht ersetzen. Erkenntnis gewinnt man im Dialog und im unmittelbaren Austausch. Deswegen ist die physische Präsenz des Hochschullehrers für die Motivation der Studierenden und die Vermittlung fachlicher Kompetenz unersetzlich.
 

Virtualisierung darf nicht dazu führen, daß akademische Lehre zu einem Transport reinen Lehrbuchwissens wird. Der elementare und nicht ersetzbare Gesprächscharakter akademischer Lehre und akademischen Lernens muß auch in der „virtuellen Universität" erhalten bleiben. Die Vor- und Nachteile eines Wandels akademischer Lehre von der Sprachorientierung zu einer Bildorientierung müssen abgewogen werden. Es ist wünschenswert, daß die durch das Netz vermittelte Lehre mit der Präsenzlehre kombiniert wird.
 

Angesichts der hohen Ausgaben, die mit der Entwicklung und Etablierung multimedialer akademischer Lehre für die Universitäten verbunden sind, ist der Staat aufgefordert, der Kostenentwicklung durch die Bereitstellung zusätzlicher Mittel für Anschaffung, Wartung und Weiterentwicklung moderner Kommunikationstechnologien im Universitätsbereich Rechnung zu tragen.
Bonn/Saarbrücken, 28. März 2001