Thesen zur Entlastung der Universität

Bonn, 1. April 1992

Spätestens seit Ende der 70er Jahre ist die Überfüllung der Universitäten ein Kernproblem der Deutschen Bildungspolitik. Unter Berufung auf Prognosen, die sich als falsch erwiesen haben, ist das Problem in seiner Bedeutung für die Qualität von Forschung und Lehre verkannt worden. An die Stelle wirksamer Entlastung sind jahrelang Vertröstungen ("Untertunnelung des Studentenberges") und letztlich unzureichende Sonderprogramme getreten. Allein um die Betreuungsrelationen des Jahres 1977 zu erreichen, müßten ca. 30.000 Stellen für wissenschaftliches Personal zusätzlich bereitgestellt werden. Die deutschen Universitäten sind zu Beginn der 90er Jahre weder personell noch apparativ noch räumlich in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen und den zentralen Herausforderungen des deutschen und europäischen Einigungsprozesses gerecht zu werden. Die deutsche Universität droht als Institution und damit als die Verkörperung der Humboldt'schen Idee der Einheit von Forschung und Lehre zu zerfallen. Vor diesem Hintergrund begrüßt der Deutsche Hochschulverband die erkennbare Bereitschaft aller hochschulpolitischen Entscheidungsträger, eine das gesamte Bildungssystem erfassende Grundsatzdebatte zu führen. Die Diskussionen, die in der Vergangenheit weitgehend isoliert geführt worden sind, etwa um die Verkürzung der Studienzeiten und um die Qualität der Lehre, sind nur in diesem Gesamtzusammenhang verstehbar und vertretbar. Nach Auffassung des Deutschen Hochschulverbandes müssen im Mittelpunkt aller Überlegungen die Rückgewinnung und Gewährleistung von Qualitäts- und Leistungsmaßstäben stehen. Die fortschreitende Inflation von Leistungs- und Qualitätsstandards im gesamten Bildungssystem hat die Zahl der Berechtigungsbescheinigungen erhöht, die Lebenschancen und beruflichen Wirkungsmöglichkeiten junger Menschen aber nicht vergrößert. Der Deutsche Hochschulverband fordert mehr Differenzierung und weniger Nivellierung im deutschen Bildungssystem. Im einzelnen stellt der Deutsche Hochschulverband an das deutsche Bildungssystem folgende Anforderungen:


Differenziertes Ausbildungsangebot

Nur ein differenziertes Ausbildungsangebot, das insbesondere auch attraktive Angebote für die berufliche Ausbildung vorsieht, kann zur Entlastung der Universitäten beitragen. Dazu gehören nicht nur die Öffnung und der Ausbau der Fachhochschulen, unter Betonung ihres spezifischen, praxisorientierten Ausbildungsauftrages. Wichtiger noch ist die Übernahme des im Bundesland Baden-Württemberg erfolgreich eingeführten und betriebenen Modells der Berufsakademien in allen anderen Bundesländern. Ein differenziertes Bildungsangebot muß einhergehen mit der bestmöglichen Information über zukünftige berufliche Chancen eines Ausbildungsweges. Die Lenkung von Ausbildungsströmen kann in einem freiheitlichen, demokratischen System nur durch möglichst umfassende, zielgruppenorientierte Informationen erfolgen.

 

Studierfähigkeit

Jedes wissenschaftliche Studium setzt die in der Regel durch das Abitur vermittelte allgemeine Hochschulreife voraus. Das Abitur muß eine allgemeine Studierfähigkeit nicht nur ausweisen, sondern auch vermitteln. Brückenkurse und hohe Abbrecherquoten in den ersten Semestern sind zumindest auch ein Indiz für fehlende Studierfähigkeit. Die Leistungsanforderungen an das Abitur sind zu betonen. Einheitliche Leistungsstandards können unter den gegebenen Verhältnissen nur durch die Einführung eines landesweiten Zentralabiturs gesichert werden. Vorzeitige Aus- und Abwahlmöglichkeiten einzelner Fächer sind zugunsten eines Grundkanons von Abiturfächern einzuschränken. Das Kurssystem mit dem Nachteil frühzeitiger Spezialisierung hat sich nicht bewährt, es ist durch die Erhaltung des Klassenverbandes bis zum Abitur zu ersetzen. In den Klassen 10 bis 13 ist über die inhaltliche und leistungsmäßige Anforderung an ein Hochschulstudium und an ein Studienfach mit größerer Intensität zu informieren (vgl. Studierfähigkeit konkret, hrsg. von Heldmann und Finkenstaedt im Auftrag des Deutschen Hochschulverbandes, 1989).

 

Hochschuleingangsprüfung

Ein aussagekräftiges Abitur, das tatsächlich eine allgemeine Studierfähigkeit vermittelt, macht zusätzliche Zulassungs- und Hochschuleingangsprüfungen nach weiteren Kriterien überflüssig. Umgekehrt werden Eingangsprüfungen umso eher erforderlich, je mehr das Abitur als Nachweis der Studierfähigkeit untauglich wird. Die Universitäten sind schon angesichts ihrer Überfüllung bis auf weiteres allerdings nicht in der Lage, den Hochschul zugang durch Eingangsprüfungen verwaltungsgerichtsfest zu regulieren. Auch würde die Hochschuleingangsprüfung das Abitur endgültig entwerten und damit das Gymnasium zerstören. Ein Auswahlrecht der Universitäten ist aber bereits heute in allen Fächern mit Auswahl verfahren (sog. harte NC-Fächer) und Verteilungsverfahren (es stehen zwar in der Bundesrepublik, nicht aber am gewünschten Hochschulstandort eine ausreichende Zahl von Studienplätzen zur Verfügung) erforderlich und sinnvoll. Bei der Auswahl von Studienbewerbern im Verfahren der ZVS sollten neben den sozialen Auswahlkriterien Leistungskriterien (z.B. Gewichtung der Abiturnoten) stärker als bisher berücksichtigt werden. Eine gerechte Verteilung des Mangels darf Leistung nicht unberücksichtigt lassen. Der Deutsche Hochschulverband hat dazu einen detaillierten Gesetzesvorschlag erarbeitet.

 

Studium von Berufstätigen

Die Forderung, den Zugang von Berufstätigen zum Universitätsstudium über den bisher bewährten Weg (sog. zweiter Bildungsweg) hinaus auszudehnen, belegt die Notwendigkeit, Berufsakademien bundesweit einzuführen. Zusätzliche Anreize (sog. dritter Bildungsweg) verkennen die Mangelsituation im beruflichen Bereich und die Überlast der Universitäten. Sie sind entweder ideologisch motiviert oder stehen in dem Verdacht, unseriöse "Lockangebote" zu sein, damit zunächst gegenüber der akademischen Bildung der beruflichen Bildung der Vorzug gegeben wird. Wenn es in Deutschland mehr Architekten als Maurer gibt, ist der Versuch geradezu grotesk, dieses offensichtliche Mißverhältnis dadurch beseitigen zu wollen, daß den Maurern das Architekturstudium eröffnet wird. Durchlässigkeit ist kein Selbstzweck. Sie anzumahnen ist nur sinnvoll, wenn Leistungsstandards erhalten bleiben und trotz nachgewiesener Leistung "Schubladendenken" eine Ausbildung behindert. Statt einer weiteren Öffnung der Universitäten sollten Modellversuche in den praxisorientierten Studiengängen der Fachhochschulen erprobt werden.

 

Hochschulzugangsbeschränkungen

Zulassungsbeschränkungen von besonders nachgefragten Studiengängen dürfen prinzipiell unter der Geltung des Grundrechtes der Berufsfreiheit nur eine vorübergehende Notmaßnahme sein. Aufgrund von falschen Prognosen der Studierwilligkeit, unterlassenem Ausbau der Studienplätze, Nivellierung der Leistungsanforderungen und Erleichterung des Hochschulzugangs wird diese Notmaßnahme auf unbestimmte Zeit notwendig bleiben. Angesichts der gegenwärtigen Lage an den Hochschulen, denen eine Überlast von 1,7 Mio. Studenten bei 900.000 vom Staat bezahlten Studienplätzen zugemutet wird, ist die von der Hochschulrektorenkonferenz geforderte Ausweitung von Zugangsbeschränkungen zum Hochschulstudium unvermeidlich, solange wirksame Abhilfemaßnahmen vom Staat nicht finanziert werden. Die Grenzen der Belastbarkeit des Hochschulsystems - aber auch der Hochschullehrer - sind erreicht. Ohne deutlich spürbare Entlastung wird nicht nur die universitäreForschung deutliche Einbußen hinnehmen müssen, sondern auch die Qualität und internationale Konkurrenzfähigkeit der Hochschulabsolventen nicht aufrecht zu erhalten sein. Das Recht der Studierenden auf eine qualitativ gute universitäre Ausbildung darf nicht länger dem extensiv verstandenen Anspruch auf Zulassung aller Studierwilligen geopfert werden.

 

Kurzstudiengänge

Kurzstudiengänge sind ebenso wie die Modelle eines zwei- oder mehrgliedrigen Studiums, die einen ersten Abschluß für die breite Masse der Studierenden und einen qualifizierten Abschluß für wissenschaftlich Befähigte und Interessierte vorsehen, wenigstens für die Universitäten abzulehnen. Im Gegensatz zu den anglo-amerikanischen Ländern fehlt es in fast allen universitären Fächern an einem Arbeitsmarkt für die Absolventen eines solchen Ausbildungsganges. Darüber hinaus ist die "Ausbildung durch Wissenschaft" ein essentieller Bestandteil der deutschen Universität, auf den alle Studierenden Anspruch haben. Nur die wissenschaftliche Ausbildung, die nicht mit der Ausbildung zum Wissenschaftler verwechselt werden darf, wird den Absolventen in einem zusammenwachsenden Europa auf Dauer Wettbewerbsvorteile sichern können.

 

Verkürzung der Studiendauer

Eine Entlastung der Hochschulen kann auch durch eine Verkürzung der Studienzeiten erfolgen. Die Verkürzung der Studienzeit darf nicht mit einer Verkürzung der Leistungsanforderungen erkauft werden. Spürbaren Studienzeitverkürzungen durch Stoffbeschränkung sind daher sachliche Grenzen gesetzt. Auch sind dabei die spezifischen Besonderheiten der verschiedenen Fächer zu berücksichtigen. Die Hochschulen sind für den Bereich der Hochschulprüfungen und der Staat für den Bereich der Staatsprüfungen verantwortlich, für eine Konzentrierung und Straffung Vorschläge zu unterbreiten. Wichtiger erscheint es aber, zusätzliche Anreize zu bieten, z.B. durch die generelle Einführung der sogenannten "Freischußregelung" (nicht bestandene Examina vor Abschluß der Regelstudienzeit gelten als frei bleibender Versuch ohne Folgen).

 

Staatliche Rahmenbedingungen

Das Studium als Lebensform kann hochschulpolitisch nicht mehr toleriert werden. Staatliche Unterstützungen sind stärker als bisher an Leistungskriterien zu orientieren. Die Immatrikula tion ist die Bereitstellung einer staatlichen Leistung, die nicht aufrechterhalten werden kann, wenn Studierwilligkeit und Studierfähigkeit nicht durch konkrete Leistungsnachweise im Studium belegt werden. Absolventen der beruflichen Bildung und Absolventen der universitären Bildung sollten die gleichen finanziellen Unterstützungen durch den Staat erhalten.

 

Bildungsausgaben

Alle in der Hochschulpolitik Verantwortlichen werden aufgefordert, Anstrengungen zu unternehmen, um den Anteil der Hochschulausgaben am Bruttosozialprodukt zu erhöhen. Die Ausgaben sind unter Berücksichtigung der Kostensteigerungsrate seit 1975 von 1.32% auf 1.12% im Jahr 1990 zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Studenten um 88.5 % gestiegen. Der Staat der als Veranstalter der Universitäten von 1,7 Mio. Studienplätzen nur 900 000 bezahlt, gefährdet die Leistungsfähigkeit der Hochschulen im Ausbildungssystem.